„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde die Hoffnung für viele. Sie ist heute die Notwendigkeit für alle.“ In der Deggendorfer Konrad-Adenauer-Straße, Heimat des Robert-Koch-Gymnasiums, ist diese Überzeugung von Altbundeskanzler Adenauer weiß Gott nichts Neues: sie ist mittlerweile nichts anderes als eine Realität. Neu allerdings war die Idee, die Geschichte dieser hart erarbeiteten, über Jahrzehnte hinweg weiterentwickelten Wirklichkeit ein wenig abzuheben vom üblichen Niveau medialer Berichterstattung oder politischer Sonntagsreden und im Rahmen eines sogenannten „Wissenschaftspropädeutischen Seminars“, welches sich über drei Semester hinweg mit der facettenreichen Geschichte des europäischen Einigungsprozesses auseinandersetzt, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Als Anlass diente der 100. Geburtstag der Paneuropa-Union, gegründet 1922 von Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972), einem deutschsprachigen k.u.k-Diplomatensohn aus dem neugeschaffenen tschechoslowakischen Nationalstaat, der bereits wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erkannt hatte, dass die Nationalismen seiner Zeit keinen dauerhaften Frieden gewährleisten würden; nur durch eine innige Kooperation der europäischen Völker gegenüber konkurrierenden Herausforderungen und Herausforderern – die sich bekanntermaßen auch heute wieder, wortwörtlich, „auf dem Vormarsch“ befinden – könne ein solcher erreicht werden. Die Paneuropa-Union tritt deshalb seit jeher, und insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, für ein politisch und wirtschaftlich geeintes, demokratisches Europa auf der Grundlage des Föderalismus und eines dezidiert christlichen Wertefundaments ein. Zu ihren bekanntesten Mitgliedern zählten neben Adenauer markante Persönlichkeiten der Geschichte wie u.a. Edvard Beneš, Aristide Briand, Charles de Gaulle, Gustav Stresemann oder auch Franz-Josef Strauß.
Weil sich aber Geschichtsbewusstsein nicht ausschließlich aus Büchern speist, und weil Geschichte auch immer zuerst die Geschichte von uns Menschen meint, ist es am Robert-Koch-Gymnasium eine lange gepflegte Praxis, sich die Welt ins Haus zu holen und den lebendigen Austausch zwischen Schülern auf der einen, sowie Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft bzw. aufgeschlossenen Zeitzeugen auf der anderen Seite zu ermöglichen. Kursleiter OStR Dr. Ernst Schütz, selbst Adenauer-Altstipendiat und Paneuropäer, konnte sich deshalb glücklich schätzen, mit Bernd Posselt MEP a.D., dem langjährigen Vorsitzenden der Paneuropa-Union Deutschland, ein „europäisches Urgestein“ im Kreise seiner Seminaristen begrüßen zu dürfen. Posselt hatte 1975 die Paneuropa-Jugend gegründet, arbeitete von 1994 bis 2014 als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Als Präsidiumsmitglied der internationalen Paneuropa-Union sprach er während der 1980er Jahre vor den Untergrund-Gruppen der Paneuropa-Union in den kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas, wo er u.a. den heutigen tschechischen Ministerpräsidenten, Petr Fiala, kennenlernte. Im Sommer 1990 war er zudem Mitorganisator des sogenannten Paneuropäischen Picknicks an der österreichisch-ungarischen Grenze, welches zur erstmaligen Öffnung des Eisernen Vorhangs führte und eine neue Ära der europäischen Geschichte einleitete. Im 21. Jahrhundert war er nicht zuletzt als Berichterstatter im Rahmen der EU-Beitritte Sloweniens (2004) und Kroatiens (2013) federführend beteiligt, nicht minder anlässlich der Anerkennung der Republik Kosovo durch die meisten Mitgliedstaaten. Seit 2015 steht er auf der Sanktionsliste Wladimir Wladimirowitsch Putins, vor dessen Regierungsübernahme er zusammen mit Otto von Habsburg (damals Präsident der internationalen Paneuropa-Union) bereits 1999 im Europäischen Parlament eindringlich gewarnt hatte.
Mit höchster Aufmerksamkeit lauschten die Schülerinnen und Schüler den Erzählungen ihres illustren Gastes, der sich als überaus nahbar erwies und sich gar stolz darüber zeigte, bei ihnen sein zu dürfen: Nichts, so Posselt, könne den persönlichen, zwischenmenschlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht ersetzen – und wie wichtig die Jugend für die Zukunft unserer Gesellschaft sei, das müsse man gerade ihm nicht erklären. Was die jungen Kochlerinnen und Kochler sich hier gemeinsam mit ihrem Lehrer vorgenommen hätten, zeuge von einem reifen Interesse an politischen und zwischenmenschlichen Zusammenhängen, welche auch in der nächsten Generation bewahrt und mitgestaltet werden müssen. Dass dies freilich nicht ohne Schweiß und Fleiß gelingen werde, daraus wollte Posselt auch keinen Hehl machen: Verantwortungsvolle Politik sei harte Arbeit, fordere den ganzen Menschen und setze auch die Liebe zum Mitmenschen voraus. Nichtsdestotrotz wolle er die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, Initiative und Verantwortung zu übernehmen.
Diese als Aufforderung verstandene Aussage nutzten die jungen Erwachsenen umgehend dazu, Posselt die jeweils für ihre einzelnen Seminararbeiten ausgewählten Themen vorzustellen und eine professionelle Einschätzung zu erheischen. Voll des Lobes über ihre bereits erworbenen Kenntnisse und aufschlussreichen Perspektiven, gab er reichlich Tipps und Hinweise, ebenso wie etliche Zusagen für Zeitzeugeninterviews – sei es mit ihm selbst oder mit anderen Zeitzeugen der Europapolitik, deren Kontakte er gerne vermitteln wolle. Gestärkt durch so viel Zuspruch und Unterstützung, wurde rasch zweierlei klar: Europa ist bei weitem nicht so abstrakt wie oftmals gedacht, und Europa wird getragen von Menschen, wird getragen von uns. Gerade der Blick auf die Geschichte der europäischen Einigung der vergangenen 100 Jahre kann uns dabei helfen, die Dinge ins rechte Licht zu rücken, sie in einen größeren Rahmen zu setzen. Und genau das ist es letztlich, was Bildung ausmacht.